Wir lesen im Unterricht Werke bedeutender Philosophen,

manchmal aber auch philosophische Werke unserer Schüler, die sie z. B. als Teilnehmer des jährlich durchgeführten Essaywettbewerbs für Philosophie verfasst haben.

 

Thema des folgenden Essays:

Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen machen nach unserem Abbild, uns ähnlich.
Die Bibel: Das Buch Genesis, 1, 26

Der Mensch ist überhaupt kein Ebenbild. Er ähnelt niemandem. Bescheidener gesagt: das Original ist völlig unbekannt.
Ludwig Marcuse: Das vierte Bild vom Menschen. In: Darmstädter Gespräch: Ist der Mensch messbar? Neue Darmstädter Verlagsanstalt. Darmstadt 1959, S. 184

Aufgabe: Setzen Sie sich mit den beiden Zitaten im Blick auf die philosophische Frage „Was ist der Mensch?“ auseinander.


"Was ist der Mensch, dass du an ihn denkst, des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst? Du hast ihn nur wenig geringer gemacht als Gott, hast ihn mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt." (Psalm 8,5-9)

Mit diesen Worten über den Menschen verweist der Psalmist auf den ersten Schöpfungsbericht des Buches Genesis (1,1-2,4a), dessen Aussage "Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen machen nach unserem Abbild, uns ähnlich" die Worte des Psalms beeinflusst hat. Lesen wir als neuzeitliche Menschen diese Psalmworte, so mögen wir uns von der eingangs gestellten Frage "Was ist der Mensch" ohne Zweifel angesprochen fühlen; wie aber verhält es sich mit der Fortführung dieser Frage, durch die der Psalmist die Größe des Menschen mit Gott als seinem Schöpfer in Verbindung bringt, der ihn mit einer besonderen Würde ausgestattet hat? Können wir diese Interpretation des Menschen im Kontext eines modernen Weltbildes und einer stetig zunehmenden Distanz zur jüdisch-christlichen Glaubenstradition nachvollziehen und uns zu eigen machen? Oder sollten wir nicht eher einer gottfernen Konzeption des Menschen zustimmen, nach welcher der Mensch sein eigener Herr ist, ohne ein transzendentes Ebenbild, also ein Original und nicht eine Kopie?

Die biblische Aussage über den Menschen hat ihren Ort im Babylonischen Exil des Volkes Israel im 6. Jahrhundert vor Christus. Die Exulanten sahen sich durch ihre schwierigen Lebensbedingungen und angesichts der Ereignisse, die zu ihrer Verbannung nach Babylon geführt hatten, herausgefordert, ihr Verhältnis zu Gott im Angesicht der über sie gekommenen Katastrophe zu überdenken und den Verlauf der Ge-schichte auf der Folie ihres Glaubens in den Blick zu nehmen. Die in diesem Kontext gemachte Aussage über den Menschen ist letztlich auch ein Bekenntnis zu Gott und eine Ermutigung für die Zukunft, dass Gott auf der Seite des Menschen stehen wird, wenn dieser sich seinem Schöpfer und Urbild aufs Neue zuwendet.

Was ist nun mit der Aussage, dass Gott den Menschen nach seinem Bild geschaffen hat, gemeint? Worin besteht die Gottebenbildlichkeit des Menschen? Ist es eine äußere Ähnlichkeit, die Vernunftbegabung oder die Fähigkeit, sich mitzuteilen und in Verbindung mit anderen zu treten? Der biblische Text gibt auf diese Frage eine klare Antwort, wenn er dem Menschen im Folgenden eine herrschende Stellung über die anderen Geschöpfe zuschreibt und damit die Verpflichtung, für diese Welt Verantwortung zu übernehmen und das Schöpfungswerk Gottes fortzuführen. Der Mensch nimmt eine Zwischenstellung zwischen Gott und den nichtmenschlichen Geschöpfen ein; als sein Abbild ist er gleichzeitig Teil der Schöpfung und bevollmächtigter Repräsentant Gottes ihr gegenüber.

Diese Sichtweise des Menschen schließt die Verantwortung des Menschen vor Gott ein und macht darauf aufmerksam, dass der Mensch nur in eingeschränkter Weise autonom ist, insofern er über eine gestalterische Freiheit verfügt, die aber dort ihre Grenze findet, wo sie glaubt, den Willen Gottes missachten zu können. Dass eine unbegrenzte Autonomie in die Irre führt und sich nicht zum Wohle des Wesens Mensch auswirkt, veran-schaulicht auf bildhafte Weise die Paradieseserzählung, in welcher der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse diese Grenze markiert, die zu überschreiten dem Menschen verboten ist.

Dieses biblische Menschenbild hat eine lange Wirkungsgeschichte, bis in unsere Gegenwart hinein. Wenn es um ethische Fragen geht, die in unserer Gesellschaft kontrovers diskutiert werden – man denke an Sterbehilfe, Gentechnik oder Schwangerschaftsabbruch –, greifen Vertreter solcher gesellschaftlichen Gruppen, die christlichen Werten anhängen, zur Begründung der eigenen Position Argumente auf, die sich auf das Menschenbild des biblischen Schöpfungsberichtes aus dem Buch Genesis stützen. Doch bei näherem Zusehen erweisen sich diese Argumente im ethischen Diskurs längst nicht mehr so überzeugend, wie sie es in früheren Zeiten zu tun vermochten. Das geistige Klima hat sich in unserer westlichen Zivilisation zu sehr gewandelt, als dass die durch das Menschenbild der Bibel gelenkte christliche Position die Richtung angeben könnte, in die sich die gesellschaftliche Konsensbildung entwickeln sollte. Mit der europäischen Aufklärung begann sich die Vernunft von ihren christlichen Wurzeln zu emanzipieren: Der Mensch wurde zunehmend unabhängiger von der christlichen Tradition, welche ihre Prägekraft in einem schleichenden Prozess der Aushöhlung überkommener Wertbestände verlor und nun zu Beginn des 21. Jahrhunderts der Gefahr einer völligen Verdunstung ausgeliefert ist.

Auf diesem Hintergrund gewinnen die Worte Ludwig Marcuses – "Der Mensch ist überhaupt kein Ebenbild. Er ähnelt niemandem. Bescheidener gesagt: Das Original ist völlig unbekannt." – an Aussagekraft. Ist dies der neue Mensch, der Mensch, auf den die theologische Rede von seiner Gottebenbildlichkeit nicht mehr zutrifft? Geht hiermit das in Erfüllung, was Friedrich Nietzsche im 19. Jahrhundert über den Übermenschen ausgesagt hat, der, seiner christlichen Fesseln ledig, nun den Siegeszug in der Rolle des neuen Gottmenschen antritt? Wird er zu seinem eigenen Schöpfer, der sich zu dem macht, was er im eigentlichen Sinne ist? Der moderne Mensch scheint kein Original nötig zu haben; er ist sich selbst ein Original. Diese Sichtweise des Menschen hat Jean-Paul Sartre auf den Punkt gebracht, wenn er in seinem philosophischen Traktat "Ist der Existentialismus ein Humanismus" schreibt: "Wenn der Mensch so, wie ihn der Existen-tialist begreift, nicht definierbar ist, so darum, weil er anfangs überhaupt nichts ist. Er wird erst in der weiteren Folge sein, und er wird so sein, wie er sich geschaffen haben wird. Also gibt es keine menschliche Natur, da es keinen Gott gibt, um sie zu entwer-fen. [ ...]  der Mensch ist nichts anderes, als wozu er sich macht."

Welchen Beitrag leisten nun die eingangs zitierten Sichtweisen des Menschen mit Blick auf die philosophische Frage "Was ist der Mensch"? Zunächst erzeugen sie im philosophischen Betrachter eine gewisse Ratlosigkeit, da sie gleichsam anthropologische Grenzpflöcke darstellen, zwischen denen sich das Nachdenken über den Menschen bewegt. Es kann bei der Frage nach dem Menschen nie darum gehen, für ihn eine mehr oder weniger endgültige Definition finden zu wollen; denn diese wird es auch nicht geben, da die Perspektiven, aus denen heraus das Wesen "Mensch" wahrgenommen wird, zu sehr divergieren, als dass eine allseitig akzeptierte Definition des Menschen am Ende eines Diskurses zu dieser Frage stehen könnte. Daher müsste die neue Rede über den Menschen weniger assertorisch sein, sondern die Frage als Sprachform bevorzugen, da in ihr all die Ungewissheiten ihren Niederschlag finden, die uns heute auf der Suche nach dem Eigentlichen des Menschen umtreiben. In diesem Kontext hätte dann auch die theologische Sicht des Menschen ihren Platz: Sie wäre eine gefährliche Erinnerung an ein uraltes Verständnis des Menschen mit einer ebenso langen Wirkungsgeschichte, eine gefährliche Erinnerung, insofern sie die Selbstüberschätzung des modernen Menschen in einer Welt ohne Gott durchscheinen lässt.

(Ann-Cathrine Lohmann, Jahrgangsstufe 13)

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